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Der Traum vom Raum
Stefan
Krüskemper
Über die freie Bewegung des Subjekts in den Raum erschliesst sich die Wirklichkeit,
um die der Körper wahrnehmend kreist. Darüber hinaus erlangt das Subjekt
aus dem objekthaften Gegenüber identitätsstiftende Kontinuität.
Big bang. Mit der Exponiertheit der Stadt entwickelten sich die ausdifferenzierte
Gestalt des müssiggehenden Flaneurs und Kunstformen wie der Situationismus,
deren Protagonisten den beschreibenden und kartografierenden Spaziergang durch
den öffentlichen Raum verfeinerten. Und: arglos den Schlüssel lieferten,
um Stadt grundlegend zu verändern.
Gendarmenmarkt
Die Wirklichkeitserfahrung des Städters heute ist bereits radikal medialisiert
und das meint kommerzialisiert. 1 Der Tourist, der eine um die andere Stadt
aufsucht, vergewissert sich auf vorgefertigten Wegen und definierten Blickpunkten,
dass seine Wahrnehmung mit dem vermittelten Bild der Reisekataloge und Postkartenansichten übereinstimmt.
Augmented reality. Das zappen durch die architektonischen Highlights und öffentlichen
Räume ist programmiert und enthält gerade soviel Zeit zur freien
Verfügung, um einen Kaffee an der nächsten Ecke zu trinken. »Gehören
sie zur Reisegruppe. Die haben ja immer so wenig Zeit. Da beeile ich mich mal
mit ihrer Bestellung.« Die anschliessende Stadtrundfahrt leitet schon über:
Der Besucher ruht klimatisiert in seinem Sessel, während ein durch die
Reiseleitung synthetisiertes Bild vor seinen Augen entsteht. Die Stadt wird
Kulisse einer medialen Inszenierung zur redundanten Selbstvergewisserung. Die
bewegten Akteure sind allesamt Teil eines nicht endenden kulturellen Spektakels
codiert in der Symbolik des Mittelstands. Was am Ende fehlt ist ein Berliner
Exot als Staffage für ein authentisches Foto dieser Stadt.
Lichtenberg
Nur hat sich durch Segregation und exklusiven
Lebensstil die Chance auf dieses Foto verringert. Im Gegensatz zum
vertrauten Bild eines homogenen Raums mit
klassifizierbaren sozialen »Schichten« besteht heute das Koordinatensystem
eines Milieus aus einer Collage verschiedenster Szenerien, dessen Fragmente
sich einzig in den Individuen dieser Beziehungsgefüge zu einer Identität
verbinden. Die Szenerien eines Milieus dienen als kulturelle Arena: als Treffpunkt
von seinesgleichen oder als Ort der Selbstinszenierung und Zurschaustellung
des eigenen Lebensstils. Paradigmatisch beschreibt Martina Löw die urbanen
Realitäten anhand zweier Milieus, die sich im öffentlichen Raum nie
begegnen werden. Anhand des »Niveaumilieus« (höhere Bildung,
an Hochkultur orientierter Stiltypus, gute Selbstinszenierung, Genussschema:
Kontemplation) und des »Harmoniemilieus« (niedrige Bildung, Distanz
zur Hochkultur und Nähe zum Trivialen, ungeschickte Selbstinszenierung,
Genusschema: Gemütlichkeit) zeigt sie auf, woraus die Menschen der jeweiligen
Milieus ihren Stadtraum synthetisieren: »Für die Angehörigen
des ›Niveaumilieus‹ sind es Theater, Museen, Galerien und Restaurants
sowie ausgewählte Geschäfte. Sie wohnen in Vororten oder in innerstädtischen
Eigentumswohnungen, ihr Bewegungsstil ist Schnelligkeit. Das ›Harmoniemilieu‹ verknüpft
angestammte Orte und Einrichtungen wie das regionale Einkaufszentrum, die eigene
Wohnung, das Fussballstadion oder auch den Kleingarten miteinander. Die Innenstadt
hat für diese Menschen kaum Bedeutung und ihr Bewegungsstil ist langsam.« Und
weiter: »So stellt das Harmoniemilieu eine als städtischer Raum
gelebte Anordnung her, die weitgehend mit dem Wohnraum übereinstimmt.
Im Vergleich dazu scheinen die Orte und Objekte, die das ›Niveaumilieu‹ verknüpft,
den Reiseführern von Städten immer ähnlicher.« 2
Auf welche Räume, Bilder und Symbole die einzelnen Individuen zurückgreifen,
um ihren Lebensstil zu formulieren, hat mit der Bildung, dem Einkommen und
der Generationszugehörigkeit zu tun. Das soziale Beziehungsgefüge
eines Milieus und die ihm eigene Kommunikation und Interaktion entwickeln sich
dann auf der Grundlage von wechselseitig wahrgenommenen Unterscheidungen und
Präferenzen. So entstehen eine Kultur der Differenz und exklusive, auf
kleine Gruppen anwendbare Modelle von Urbanität, Identität und Lebensstil.
Ostbahnhof
Ein Austausch zwischen den gesellschaftlichen
Modellen ist von seinen Konstrukteuren nicht vorgesehen und findet
eher an den Rändern statt. Dieser verläuft
dann in Relation zur Grösse der Differenz nicht ohne Reibung. Der Filmemacher
Andreas Dresen beschreibt in »Nachtgestalten« 3, wie solche zufälligen
Treffen enden. Gewalttätig entlädt sich die Spannung zwischen Suburb-
und Drogenmilieu, zwischen gut verdienendem Angestellten und Punk. Möglichkeitsräume
dieser Zusammenstösse sind keine innerstädtischen Räume sondern
die neuen (und wahren) urbanen Zentren: Der Bahnhof und der Flugplatz sind
die Orte von denen sich die Handlung aus entwickelt, da sie als »junkspace« ohne
die ausschliessende Symbolik der Repräsentationssorte auskommen und so
Netzpunkte unterschiedlichster Lebensmuster geworden sind. Ohne Teilnahme und
Verständnis am Anderen, dafür mit Blessuren, trennen sich die Wege
der Protagonisten des Films wieder. Ihr Lebensraum war nicht teilbar. Die bequeme
Ignoranz dem Anderen gegenüber ist der Preis ihrer fortgeschrittenen räumlichen
Individualisierung, die eine konturierte und Identität stiftende Abgrenzung
ersetzt hat. Totalitärer Egoismus. Da wo ich nicht bin, »bin« ich
nicht.
Die Beschreibung dieser persönlichen Lebensräume und seiner Szenerien
trifft nicht, wenn sie im geometrischen Vokabular des Städtischen haften
bleibt. Um die Konstruktion, den Entwurf des vom Subjekt eingenommenen Raumes
deskriptiv zu halten, muss der Raumbegriff kulturalisiert werden: Erst durch
das aktive Erzeugen von Welt und Wirklichkeit durch Wahrnehmung und anschliessender
Bewertung konfiguriert sich ein individueller Raum und persönliche Kontinuität.
Diese Kontinuität lässt sich nur im Subjekt selbst herstellen: wenn
die Erfahrung der Körpergrenze, das Innen, auf das gesamte Konstrukt seiner
Welt ausgedehnt ist. »Im Unterschied zur blossen Umwelt, die uns mehr
oder weniger sinnlos umgibt, bedeutet Welt eine innigere Zusammengehörigkeit.
In einer Welt beziehen wir das Äussere in unser Inneres so mit ein, dass
es nicht mehr zu trennen ist. Das Innere und das Äussere bilden einen
durchgängigen Lebensraum, der durch uns geleistet wird. (...) Dieser Binnenraum
ist der eigentliche Lebensraum. Er ist der unsichtbare Körper des Menschen.
(...) Immateriell, akut und nicht deckungsgleich mit der sichtbaren Umwelt.« 4
Hinreichend beschrieben wäre dieser Weltraum, dieser bewohnte Körper
ein inneres Abbild des synthetisierenden Subjekts: seines Milieus, seiner Subjektivität
und seiner Ziele. Ein kultureller Raum aus Parfüm, Kleidung, Wissen, Vorlieben.
Damit einher geht die Gefahr, die Begründung des Menschseins in der körperlichen
Wirklichkeit zu verlieren. Und damit das grundlegende Koordinatensystem, das
unsere Erfahrung des Selbst durch Grenzen (Innen/Aussen, Körper/Abstraktion)
generiert. Das eigene Erleben, mein Verhältnis zum Anderen und die Atmosphäre
die ich schaffe, werden zur Syntax, um einen Raum zu entfalten, der nunmehr
immateriell und einzigartig ist. Fluktuierend und fragmentarisch. Der entsteht,
weil ein Subjekt ihn ergreift und Stadt nennt: Die individualisierte Stadt.
Ein exklusiver Erlebnisraum des sich selbstverwirklichenden Menschen.
Strasse des 17. Junis
Das verinnerlichte neoliberale Bild dieser
Selbstverwirklichung und damit der Raumergreifung ist aber auf der
einen Seite längst zum
Fluch geworden und hat sein emanzipatorisches Potential eingebüsst.
Postfordistischer Kapitalismus heisst eben: Migration, Segregation und
Gentrifizierung. Auf der anderen Seite öffnet die Kulturalisierung
des Raums Tür und Tor für die Kommerzialisierung der Lebensstile.
Durch die alle Lebensbereiche erfassende Ökonomisierung und die
damit einhergehenden kulturellen Verwertungsmechanismen ist Subjektivität
zum potentiellen Produkt mutiert. Da das Konstrukt einer Lebenswelt und
-wirklichkeit sich zum einen aus kommerzialisierten Elementen, wie angeeigneten
Symbolen und Raumimages zusammen setzt und zum anderen aus ihrer damit
verbundenen authentischen (und verwertbaren) Subjektivität, lassen
sich gewinnbringend Lebensstile über mediale Träger in andere
soziale Bereiche transferieren. Allerdings nie ohne den Verlust einer
Dimension, die den Lebensraum auf sein Image reduziert. Die Loveparade
ist für viele eine kulturelle Enteignung und Entwertung eines Teils
ihres Weltraums gewesen, wie sie für andere eine kommerzielle Erweiterung
ihres Lebensstils darstellte. Aus diesem Verlust des Identität stiftenden
Authentischen und der Korrosion der emanzipatorischen Raumergreifung
durch ökonomische Prozesse erwachsen konservative Modelle von Urbanität,
Heimat und Community dessen innerer Kern sich gleicht: sie sind ersehnte
Simulationen von Erinnerungsimages, die so nie existierten.
Dabei ist es interessant zwischen Imitation und Simulation zu unterscheiden.
Slavoj Zizek beschreibt in »Die Pest der Phantasmen«, dass Simulationen
den Anschein von Wirklichkeit erzeugen, sie aber nicht abbilden. »Mit
anderen Worten, Imitation imitiert ein präexistierendes Modell des wirklichen
Lebens, während die Simulation den Anschein einer nicht existierenden
Realität generiert – es simuliert etwas, das nicht existiert.
(...) Die Konsequenzen aus dieser Unterscheidung von Imitation und Simulation
sind radikaler als sie scheinen mögen. Im Gegensatz zur Imitation, welche
den Glauben an eine präexistente ›organische‹ Realität
aufrechterhält, ›denaturalisiert‹ Simulation rückwirkend
die Realität auf dem Wege der Erschliessung der Mechanismen, die für
ihre Generierung verantwortlich sind.« 5 Diese Erkenntnisverschiebung
hin zu einer abstrakten Ordnung die jegliche Realität generiert, bedeutet
für Zizek konkret dass, das Feld der Anschauung auf eine (Ober-)Fläche
reduziert wird während »Realität« selbst als visuell
Halluzinatorisch wahrgenommen werden kann.
Potsdamerplatz Arkaden
Paradigmatisches Beispiel ist die Mall. Ein
exklusiver und privater Ort, der in allen seiner Bereiche kommerzialisiert
ist. Seine Anziehungskraft entwickelt
er als Surrogat von Öffentlichkeit, Kommunikation und urbanem Leben. Tatsächlich
ist es ja auch ein urbaner Raum der nach kollektiven Erinnerungsimages und
Sehnsuchtsbildern von Stadt restrukturiert wurde, dabei allerdings unbewusste
oder verdrängte Bestandteile der Erinnerung nicht erkundet, sondern gänzlich
eliminiert und damit den Anschein einer neuen Urbanität generiert. Diese
Urbanität ist die Summe der Vorstellungen, die man sich von dem erinnerten
Image »Piazza« macht und entwickelt daher ein Eigenleben, unabhängig
von der Realität des imaginierten Ortes. Sie ist somit nicht gebunden
an die Präsenz des Imaginierten, sie steht ausserhalb des Raumes.6 Und
ist damit kein imitierendes Abbild.
Im offensichtlich dreidimensionalen Gebilde der Mall könnte sich Wirklichkeit
durch die Bewegung meines Körpers erschliessen lassen. Bei genauerer Betrachtung
stellen sich die Bestandteile dieser Lokalitäten aber selbst als Bilder
heraus. Als glattgebügelte und perfekte frainchising Konzepte, die nicht
mehr, aber auch nicht weniger, als eine produktrelevante Fassade und Atmosphäre
erkennen lassen. Wie umfassend produktübergreifende Konzepte in unser
Leben eingreifen und wie sehr Firmen mit kulturellen Strategien arbeiten beschreibt
Naomi Klein in »no logo«: »Meiner Ansicht nach hat dies mit
der natürlichen Anziehungskraft des Utopismus oder seiner lllusionen zu
tun. Man sollte nicht vergessen, dass der Vorgang des Branding damit beginnt,
dass Menschen um einen Tisch sitzen und versuchen, ein ideales image heraufzubeschwören;
sie wenden Begriffe wie ›frei‹, ›unabhängig‹, ›rau‹, ›angenehm‹, ›intelligent‹ und ›hip‹ hin
und her. Dann machen sie sich daran, reale Möglichkeiten zu finden, diese
Ideen und Attribute zu verkörpern, zuerst durch Marketing, dann durch
bestimmte Verkaufsräume wie Superstores und Kaffeeketten, und schliesslich
- wenn sie wirklich führend sein wollen - durch die totalen Lifestyle-Erfahrungen
wie Freizeitparks, Lodges, Kreuzfahrtschiffe und Städte. (..) Zum ersten
mal seit Jahrzehnten errichten Gruppen ihre eigenen idealen Gemeinschaften
und bauen konkrete Denkmäler. (...) Die emotionale Kraft dieser Enklaven
liegt in ihrer Fähigkeit, eine nostalgische Sehnsucht einzufangen und
dann intensiv aufzublähen: Diese Kreationen können leicht unheimlich
wirken und an science fiction erinnern, dennoch sollte man sie nicht als krassen
Kommerz für die gedankenlosen Massen abtun: es sind - im positiven oder
negativen Sinn - privatisierte öffentliche Utopien.« 7 Der Besucher
der Mall ist als passiver Konsument des Städtischen, Bestandteil einer
Inszenierung geworden, die in ihrer Minderdimensionalität auf Fernsehniveau
reduziert ist. Für den »Flaneur« der Mall heisst das: Der
Gewinn an Erfahrung durch die Bewegung im Raum gleicht der Erkenntnis beim
Betrachten eines Werbeclips. Ein Erinnerungsclip vom öffentlichen Raum.
Brandenburger Tor
In Folge der Bewegung eines Subjekts in den
Raum konstituiert sich dieser als öffentlich
durch die Wahrnehmung eines Gegenüber, eines fremden Anderen. Dennoch
bleibt Öffentlichkeit zunächst eine Abstraktion, da der subjektive
Blick des Betrachtenden die Realität des Anderen, des Objekts nur in innere
Vorstellungen transformiert. Erst im Verschwinden des Objektcharakters des
Gegenüber und der Wahrnehmung selbst Teil dieses Prozesses einer sich
mir entziehenden Vorstellungsbildung zu sein, entstehen die vielfältigen
Abstufungen eines öffentlichen Raums und seiner Aktionsfelder. Ich sehe
und werde gesehen. Diese Ebene der Emotionalität der sich gegenseitig
Betrachtenden und die Unbestimmtheit der Situation, die damit verknüpft
ist, unterscheidet sich existentiell vom rein visuellen Vorstellungsbild, das
keine Teilnahme erfordert. Demgegenüber ist der Blick aus dem geschützten
Privaten heraus, ohne die Möglichkeit oder den Wunsch zur Interaktion,
voyeuristisch und damit keineswegs öffentlichkeitsstiftend. Er ist passiv
und bleibt distanziert. Dieser visuelle Fernsehblick erfordert keine Handlung
und keine teilnehmende Verbindung zum Gesehenen. Der private, nicht erwiderte
Blick als solches erwartet und generiert allenfalls eine zweidimensionale Sequenz,
aber keinen (öffentlichen) Raum der Aktivität. Insofern verwundert
es nicht, dass die Begriffe »öffentlich« und »privat« mit
den Erwartungen an Besitzverhältnisse verbunden wurden und das Ordnungssytem
der Stadt bildeten.
Zeitgemässe Repräsentationsrituale im öffentlichen Raum zielen
allerdings nicht mehr auf konkrete Reaktionen der körperlich Anwesenden,
sondern wirken ausschliesslich über die Verbreitung und Multiplikation
durch die Massenmedien. Fernsehanstalten erreichen durch die Berichterstattung
zwar Öffentlichkeit, konstituieren sie aber nicht. Die entsteht zwangläufig
erst »ausserhalb« des Mediums. Nach dem Ausschalten. Entspricht
das Erlebnis Mall dem privaten Fernsehkonsum, dann ist der funktionierende öffentliche
Raum mit der Komplexität, Dezentralität und Interaktivität eines
Computernetzwerks, wie den peer-to-peer Kontakten über Gnutella 8 zu vergleichen.
Oder dem Internet. Noch.
Das Mass des Freiheitsgrades und der damit einhergehenden Unbestimmtheit des
Objekts, ergeben den sich lösenden Funktionszusammenhang von öffentlichen
und privaten Sphären. Denn im kommerziellen Konkurrenzkampf gegen die
Mall oder den peripheren Einkaufszentren wurden die ertragversprechendsten öffentlichen
Plätze ausgewählt, aufgerüstet und der Imagemaschinerie der
Städte untergeordnet. So herausgeputzt, überinstrumentiert und seiner
früheren Unbestimmtheit beraubt hat der Platz das ihm innewohnende integrative
Moment verloren. Robert Kaltenbrenner, Publizist und Leiter der Abteilung Bauen,
Wohnen, Architektur im Bundesamt für Raumordnung schreibt dazu: »Denn
den fundamentalen, gesellschaftlichen Verlust an vielfältig nutzbaren öffentlichen
Raum versuchen Stadtverwaltungen nun mit einer geradezu obsessiven Gestaltung
der verbliebenen, vor sich hin kümmernden Räume aufzufangen. Dem
Modell der Privaten folgend, wird auch die öffentliche Domäne, vornehmlich
an ausgewählten stellen in der City, von der Stadtverwaltung verschönt – und
zugleich in eine enge Funktion gezwängt, die ihren Charakter als Multioptionsraum
nicht zuträglich ist.« 9 Milde formuliert. »Indem jedoch die öffentliche
Hand immer stärker in eine Rolle gleitet, die sie einem privaten Investor
oder Developer ähneln lässt, verschieben sich die Gewichte. Einer
Stadt, die heute noch keine Marke ist fällt es schwer, ökonomische,
gesellschaftliche und kulturelle Aufmerksamkeit auf sich zu lenken.« Im
Grunde würde der Vorschlag, Plätze genauso wie die Bahn zu privatisieren,
um den ökonomischen Ertrag aus Events, medialen Repräsentationsritualen
und Cafenutzung marktwirtschaftlich zu nutzen, niemanden mehr überraschen.
Die Service GmbH übernimmt die kulturelle Verwertung des öffentlichen
Raums und bringt durch den Verkauf etwas Geld in die leeren Kassen der Kommunen.
Babelsberg
Oft nicht weit von den gegenwärtigen aufpolierten Erinnerungsräumen
des öffentlichen Platzes oder der privaten Mall entfernt, verwahrlost
ein ehemals intakter Bereich der Stadt nach dem anderen. Durch städtisches
Branding, der Ökonomisierung des Raums und der Privatisierung des Öffentlichen
entziehen diese schwarzen Löcher dem Restkörper der Stadt Energie
und polarisieren. Polarisieren offensichtlich zwangsläufig: in medialisierte
Bereiche der Stadt, die ihre historische und soziale Authentizität
durch den Prozess der Ökonomisierung verloren haben, um in der Abstraktion
neu codiert wieder zu entstehen, und in die zurückgelassenen urbanen
Orte des Unbewussten und der Restkörperlichkeit, der diejenigen
Menschen auffängt, die anderswo unerwünscht sind.
Martin Burckhardt liefert in »Geist der Maschine« 10 einen allgemeineren
Erklärungsansatz für diese Dichotomie der Stadt, die ja von ihren
entwurzelten und die Abstraktion suchenden Citoyen grundlegend umgestaltet
wird. Anhand des Turing-Tests beschreibt er: Zwei Personen werden vom Testleiter
befragt ohne dass er die Personen sehen kann. Beide behaupten weiblich zu sein,
obwohl es nur eine Person ist. Über die Antworten kann der Testleiter
entscheiden, welche Person lügt (in dem Film »Bladerunner« 11
ist dieser Test im landläufigen Sinne verwendet, um zwischen Mensch und
Maschine zu unterscheiden). Das Entscheidende ist: In diesem Test wird der
Körper des Menschen zur reinen Kommunikation und zum Image. Über
das die Probanten sich deshalb »wahrhaft« mitteilen, um eines Körpers
habhaft zu werden. In diesem Prozess einer »organischen Medialisierung« löst
sich Körperlichkeit im universalen Raum der Zeichen, der Sprache und – aufgezeichnet
zur Weiterverarbeitung – der Schrift auf und hinterlässt diese unüberbrückbare
Lücke zwischen der Beschreibung und dem Beschriebenen. Das ist die Eintrittsvoraussetzung
in die mediale »Wirklichkeit« und damit die Möglichkeit ihrer ökonomischen
Verwertung.
Abgespalten und unsichtbar bleibt die »dunkle« Seite der Wirklichkeit
im Stuhl sitzen, der reale Körper, während er im immateriellen Sprachraum
eine eigene, losgelöste Identität entwickelt. Hier trennen sich nicht
Subjekt und Objekt, sondern die Grunderfahrung der Einheit eines Selbst. Burckhardt
sieht paradigmatisch in dem Weg wie Turing sich durch einen vergifteten Apfel
umbringt, Schneewittchen. Und die abgespaltene Seite: Turings zurückgelassenen
und fremd gewordenen Körper. Der Preis des homosexuellen Mathematikers
ist in dieser Konsequenz die unmögliche Trennung seines Körpers von
dem Abstraktum für das er lebte und damit schlussendlich sein Freitod
gewesen. Teleexistenz. Allegorischer: Viele heutige Lebensäusserungen
sind engelhaft in dem Sinn, dass der gelöste Mensch körperlos im
Raum »erscheint«. Mit Hilfe der Medien betrachtet er Entferntes,
agiert über Interfaces mit Maschinen oder kommuniziert mit Seinesgleichen.
So finden wir ihn im technischen Medium Internet wieder, um hier im Chat oder
dort im Spiel seinen transsexuellen Avatar ins Rennen zu schicken. Darauf sich
mit seiner »Nachtgestalt« verbinden: duschend den eigenen Körpergeruch
mit Egoist ersetzen. Das Eine (die Medialisierung) ist wohl nicht ohne das
Andere (die Lücke) zu denken.
Stadtschloss
Persönliche Kontinuität und Identität konstituieren sich nicht
mehr aus der Verortung in einem homogenen Raum eines Stadtviertels, sondern
aus konstruierten Szenerien, die sich fragmentarisch aus zeitlich strukturierten
Räumen individuell zusammensetzen. Dieser personalisierte Erlebnisraum
ist medial und öffnet daher die Pforten für kommerzialisierte Erinnerungsbilder,
Images (Simulationen, Produkte, Inszenierungen) und Szenen, die subjektiv als
erweiterte Körpergrenze erfahren werden. Damit erschliesst sich Wirklichkeit
nicht über die freie Bewegung des Subjekts, sondern über eine medialisierte
Rezeption und Produktion, genauer: durch die Bewertung des immateriellen Produkts »kultureller
Raum« durch passive Konsumenten. Auch: durch ihre aktiven Produzenten.
Diese Medialisierung resultiert aus der Abstraktion gezielt codierter öffentlicher
Räume oder deren Utopie. Damit einher geht die Privatisierung als ein
Ergebnis der Ökonomisierung des Alltags anhand von kulturellen Verwertungsmechanismen.
Dem Verdampfen des öffentlichen urbanen Raums begleitet die Schlacke seiner
Verwahrlosung. Ist der verwertbare Raum Abstraktion geworden, so verkörpern
die vergessenen urbanen Restflächen die Abwesenheit und damit: zwangsläufig
ihr Erstarken. Nicht von ungefähr finden diese Räume das Interesse
der Subkulturen, steckt doch im Tod die Auferstehung und der Neuanfang. The
dj`s in the house: Engel aus der Asche? Es schliesst sich nur ein Kreis. Der
Verheissung, die Kulturalisierung der Lebensräume und den Prozessen der
Raumergreifung durch künstlerische Praktiken zu begegnen, stehen die ökonomischen
Verwertungsmechanismen entgegen. So ist der Schritt den öffentlichen Stadtraum
aufzugeben notwendige Bedingung zu einer erst beginnenden Auseinandersetzung.
Stefan Krüskemper (www.krueskemper.de)
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1. Was
heisst schon medial? Die Erfahrung von objekthafter Wirklichkeit
vermittelt sich immer über ein Medium. Dieses Medium generiert
und transportiert ein zeitliches Bild, eine Vorstellung einer ansonsten
irrelevanten, da nicht wahrgenommenen, Wirklichkeit. Insofern ist
zum Beispiel das Hirn ein »organisches« Medium im Gegensatz
zum technischen Medium des Films. In beiden Fällen reisst
die Wahrnehmung eine Lücke zwischen Vorstellung und Objekt.
Ein Medium erweitert innerhalb seiner Kategorien den Horizont meiner
Realitätswahrnehmung. Innerhalb der Kategorien meint: der
Film sagt mir oft mehr über den Autor, die Dramaturgie und
seine Absicht als über den eigentlichen Gegenstand der Betrachtung.
In diesem Zusammenhang des Textes ist aber die kommerzielle Verwertungsmöglichkeit
von zentraler Bedeutung, die im kulturellen immer mediale Träger
benötigt. Hier sei Boris Groys Kulturökonomie erwähnt.
Durch den Transport von etwas Profanen in den kulturellen Raum
entsteht Mehrwert und etwas Neues. Damit einhergehend werden bestehende
kulturelle Werte in Frage gestellt und entwertet. Heutige Ökonomie
bedient sich dieses Zusammenhangs.
2. Vgl: Martina Löw zitiert
von Regina Bittner, in »Die Stadt als Event«, hg:
Regina Bittner, Edition Bauhaus, Campus Verlag Frankfurt, New
York, 2001
3. »Nachtgestalten«,
D 1999. Regie und Buch: Andreas Dresen. K: Andreas Höfer.
M: Cathrin Pfeifer, Rainer Rohloff. D: Dominique Horwitz, Meriam
Abbas, Michael Gwisdek,Oliver Bäßler. 103 Min.
4. »Der Raum, Prolegomena
zu einer Architektur des gelebten Raumes«, Franz Xavier
Baier, Verlag der Buchhandlungen Walther König, Köln.
5. »Die Pest der Phantasmen«,
Slavoj Zizek, Passagen Verlag, Wien 1997
6. »Das Image einer
Person (oder eines Objekts) ist weit mehr als ein Abbild. Es
ist die Summe der Vorstellungen, die man sich von der Person
macht. Es entwickelt daher ein Eigenleben, unabhängig
von der Realität der imaginierten Person. Es ist somit
nicht gebunden an die Präsenz des Imaginierten, es steht
ausserhalb des Raumes.« telepolis, heise.de/tp, Christian
Gapp, 21.07.2002
7. »No logo«,
Naomi Klein, Riemann Verlag, 2001
8. http://www.gnutella.org
9. Essay: »Bloss nicht
zu hübsch«, Robert Kaltenbrunner, Tagesspiegel vom
6. April, 2002
10. »Vom Geist der Maschine«,
Martin Burckhardt, Campus Verlag Frankfurt, New York, 1991
11. »Bladerunner«,
USA 1982, Regie: Ridley Scott, Nach einer Novelle von: Philip
K. Dick. D: Harrisin Ford, u.a.
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